Ich sitze auf der Terrasse und frühstücke. Meine Gedanken hängen in München, wo einen halben Tag zuvor neun Menschen starben. Eigentlich sogar 10, aber mag man den Attentäter, der sich anschließend selber richtete, mitrechnen? Ich denke an Freunde in München, die zwar wohlbehalten sind, aber trotzdem schwere Stunden erlebt haben, in denen sie ihr Haus nicht verlassen sollten.
Da höre ich in einiger Entfernung ein kleines Kind Hallo rufen. Freundlich klingt dieses Hallo, freundlich und unbeschwert. Nochmal ruft es Hallo. Ich hatte nie einen besonderen Draht zu Kindern, aber in diesem Augenblick beneide ich dieses Kind. Weiß es doch nichts von diesem Wahnsinn, der sich das vor wenigen Stunden abgespielt hat. Es weiß nichts von Würzburg, Nizza, Paris, Orlando, Bangladesch, Bagdad, Kabul, Madrid, London, wo Menschen ihresgleichen umbringen, weil sie westlich dekadent, falschen Glaubens, einfach nicht gläubig genug, homosexuell oder sonst etwas sind.
Es kennt keinen Terror, der sich wie ein Geißel über diese Welt legt und uns dabei immer näher kommt. Es nimmt keine Unterschiede , keine Abstufungen wahr, wie dass einem die von Terror betroffenen Menschen im Nahen Osten geografisch und kulturell fern sind, die in Amerika nur noch geografisch, während einem das Grauen in Europa doch schon näher kommt und wie es schlußendlich greifbar wird, wenn es in Zügen stattfindet, die man auch selber benutzt und Menschen betrifft, die man persönlich kennt.
Das Kind kennt keine Gefühle von Ohnmacht, Angst und Wut, die immer stärker wird. Keine Angst vor gesellschaftlicher Veränderung, Angst vor generellem Misstrauen, Angst davor, dass es einem jederzeit selber treffen kann, Angst davor, dass aus Wut Hass wird. Angst davor selber zu hassen.
Das Kind nimmt den enormen, medialen Aufriss nicht wahr, während ich auf dem Grat wandele Informationen in mich aufsaugen zu wollen und es nicht mehr hören zu können. Darüber nachdenke, ob es das mit jedem Terrorakt, Anschlag, Attentat so weitergehen kann, soll, muß? Oder ob dieses Thema irgendwann Alltag werden wird? So wie schwere Autounfälle?
„Auf der A7 sind zwischen Hamburg und Hannover bei einem Auffahrunfall an einem Stauende 4 Menschen ums Leben gekommen…. Das Wetter“
„In einem Einkaufscenter in Bremen-Oslebshausen sind bei einem Amoklauf 5 Passanten erschossen worden … Zum Sport …“
Das Kind ist bestimmt schon im Spiel versunken oder entdeckt mit staunenden Augen die Welt, während ich denke, ob es uns gelingen wird im Angesicht eines arabisch aussehenden Menschen in einer U-Bahn genauso wenig an Terror zu denken, wie wir angesichts eines Audi Q7-SUV auch nicht automatisch daran denken, dass er bei einem Unfall einen Kleinwagen zermalmen könnte?
Darf man das überhaupt miteinander vergleichen, darf man so denken?
Ich höre das Kind nicht mehr rufen, ein Lächeln huscht aber noch einmal über mein Gesicht, wenn ich an seine Unbeschwertheit denke. Dieses Lächeln könnte einem gefrieren bei dem Gedanken daran in welche Welt es hineinwächst. Aber dann entsinne ich mich der „positiven Seiten“ des Grauens. Der jedes Mal überwältigenden Anteilnahme weltweit, der Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen, die plötzlich ihr Zuhause nicht mehr erreichen können, weil der öffentlich Nahverkehr zum Stillstand gebracht wurde. Ich denke daran wie in München das Hotel Vier-Jahres-Zeiten, den Menschen Einlaß gewährt um von der Straße zu kommen, genauso wie die Bayrische Staatskanzlei und die Moscheen und viele ganz normale Menschen.
Da heben sie sich für einige Stunden auf, die Grenzen zwischen Arm und Reich, die Grenzen zwischen den Religionen und den Kulturen. Da steigt in diesen Momenten die Hoffnung auf ein friedvolles Miteinander wie Phönix aus der Asche. Und so lange diese Hoffnung lebt, können wir alle leben. Verbunden mit der Hoffnung, dass dieses Kind in dieser Hoffnung und in diesem Geist aufwächst, anstatt später im Internet oder sonst wo falschen und fanatischen Ideologien zu erliegen.
Möge dieses nicht nur diesem Kind, sondern vielen und Abermillionen Kindern gelingen.